Storytelling ist die Kunst, Geschichten so zu erzählen, dass der Leser dranbleibt. Wie das funktioniert, weiß Anja Gild. Sie ist Journalistin und Dozentin, unterrichtet Schreiben für Online-Medien sowie klassisches und digitales Storytelling.
Storytelling – was verbirgt sich dahinter?
Ganz einfach: Geschichten. Das können Geschichten im Journalismus, in der Unternehmenskommunikation, in der Werbung, im Marketing oder im Bereich Teambildung beziehungsweise Teamcoaching sein. Ich verwende in meinen Trainings immer die Definition von Marie Lampert und Rolf Wespe aus ihrem Buch „Storytelling für Journalisten“. Darin heißt es: „Storytelling strukturiert das Chaos der Information“. Ich finde diesen Satz ganz wunderbar.
Was will und was kann Storytelling?
Storytelling hilft unter anderem, die Komplexität der Welt oder einzelner Vorgänge anschaulicher und vor allem nachvollziehbarer zu machen. Indem ich eine Geschichte erzähle, mache ich ein Thema transparent, emotional nachvollziehbar. Dadurch kann ich mich mit einem Thema identifizieren und die Inhalte besser abspeichern.
Worin unterscheidet sich Storytelling von der klassischen Reportage?
Die klassische Reportage fällt auch unter Storytelling. Alle erzählenden Formen, ob schriftlich, auditiv, visuell oder mündlich sind Teil des Storytelling – in klarer Abgrenzung zur klassischen Meldung oder Nachricht. Der Bericht wiederum kann schon Storytelling-Elemente enthalten. Lampert und Wespe sprechen in ihrem Buch von „kreativen Elementen der Berichterstattung.“
Wie geht modernes Storytelling?
Modernes Storytelling unterscheidet sich in den Grundelementen nicht vom klassischen Storytelling. Helden, Konflikte, Handlungen, Orte und Dramaturgie sind und bleiben die Basis aller Geschichten. Der Unterschied besteht in den verwendeten Darstellungsformen. Moderne Geschichten erzählen mit Text, Video, Audio, Bildstrecken, Audio-Slides, Infografiken und Musik. Im Aufbau der Geschichte müssen sich die Autoren darüber klar werden, welche Inhalte sie mit welchen Mitteln erzählen. Und im modernen Storytelling verwenden wir oft Contentmanagement-Systeme, die eine Einbindung von Bild-, Video- und Audioelementen überhaupt erst möglich machen.
Glauben Sie, dass im digitalen Zeitalter noch eine Nachfrage nach ausführlichen und hochwertigen journalistischen Geschichten besteht?
Ja, gerade im digitalen Zeitalter sind hochwertige Geschichten wichtig. Und die Nachfrage wird meiner Ansicht nach noch steigen. Gute Geschichten sind im ständigen Flow digitaler Kommunikation wie kleine Inseln. Hier kann sich der Rezipient für einen Moment tiefer einlassen, ausruhen und inspirieren lassen.
Worin unterscheiden sich Storytelling und Scrollytelling?
Scrollytelling ist eine Form des Storytellings. Der User bekommt die einzelnen Bestandteile einer Geschichte über den Prozess des Scrollens serviert. Bei den meisten Scrollytelling-Tools kann der User entscheiden, ob er sich die ganze Geschichte über die Navigation anzeigen lassen soll, um dann in einzelne Kapitel zu springen, oder ob er tatsächlich die Geschichte im Scrollen Inhalt für Inhalt quasi entdeckt.
Charakteristisch für Longform-Journalismus ist die Verwendung von multimedialen Elementen wie Videos, Audios, Animationen, Grafiken oder datenjournalistischen Anwendungen. Welche Elemente wenden Sie in Ihren Geschichten an?
Ich selbst erzähle Geschichten ohne alles, unmittelbar, freimündlich. Da ist kein Papier, kein Video, einfach nichts. Die Geschichten, die ich als Beispiele in meinen Trainings zeige, verwenden in der Regel alle Elemente. Multimedial erzählte Geschichten sollten abwechslungsreich sein. Allerdings nicht „auf Teufel komm raus“. Sonst wird es zu unruhig.
Wo wird Storytelling online eingesetzt?
Eigentlich überall. Newsportale wie Spiegel Online oder auch Zeit Online setzen Storytelling online ein. Der WDR und auch der BR arbeiten online mit Storytelling. Auch im Unternehmenskontext werden Contentmanagement-Systeme verwendet, die Content im Scrolling-Verfahren anbieten. Natürlich muss eine Redaktion oder auch eine Unternehmenskommunikation entscheiden, ob sich der zeitliche und vielleicht auch der finanzielle Aufwand für eine gute Online-Story lohnt. Im Zweifelsfall wird Storytelling online da eingesetzt, wo Themen langfristig, überzeugend und breitenwirksam kommuniziert werden sollen.
Wie beurteilen Sie den Wert von Storytelling?
Das hängt völlig vom Kommunikationsziel und auch der Zielgruppe ab. Nicht jede Zielgruppe wird mit Geschichte erreichbar sein. Die Empfehlung lautet, je fachspezifischer Zielgruppen sind, desto weniger benötigen sie Storytelling. Wobei ich diese Aussage nicht immer unterstreichen würde. Auch beim Fachpublikum können Geschichten flankierend zu einer mehr informationsorientierten Kommunikation eingesetzt werden. Der Wert des Storytellings hängt auch mit der Suchmaschinenoptimierung zusammen: Je länger User in einer Geschichte verweilen, desto besser ist das für das Ranking. Und das wirkt sich dann wieder auf das Thema Anzeigenkunden aus.
Geht Online-Journalismus noch ohne Storytelling?
Klar. Storytelling ist nicht immer und überall das Mittel der Wahl. Das muss genau abgewogen werden. Aber ich würde mich mit dem Phänomen „Storytelling“ sehr wohl auseinandersetzen, bevor ich mich in einer Redaktion oder einer Agentur bewerbe. Es gehört aus meiner Sicht heute zum Handwerkszeug eines jeden guten Journalisten.
Das Interview führte Susann Niedermaier.
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