Die Überschrift |
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1914 schreibt Tucholsky in seiner Glosse „Die Überschrift“: „Früher fragte man, wie eine Medizin wirke, heute, wie sie verpackt sei. Ein Königreich für einen Titel.“ Ist die „Verpackung“ wirklich wichtig oder warum widmen Sie diesem Thema ein ganzes Buch?
Wolf Schneider (WS): Die Überschrift ist keine Verpackung. Sie ist die freundliche Botschaft: „Hier teile ich dir mal mit, was du lesen könntest“. Eine Verpackung ist etwas, was man wegschmeißt. Insofern ist der Vergleich vollkommen schief.
Detlef Esslinger (DE): Der Lauftext entscheidet in der Regel darüber, ob man den Text zu Ende lesen möchte. Die Überschrift entscheidet meistens darüber, ob die Leute überhaupt anfangen zu lesen.
WS: An Journalisten jeglicher Art, insbesondere an Jungjournalisten, Journalistenschüler, Volontäre. Wir weisen ihnen nach, dass auch die größten Zeitungen törichte Überschriften machen. Und sollte die eine oder andere große Tageszeitung davon Kenntnis nehmen, wäre ich nicht böse.
DE: Die Qualität der Überschrift ist keine Altersfrage. Ein 33– oder ein 27–Jähriger macht im Schnitt genauso viele gute wie schlechte Überschriften wie ein 57– oder ein 63–Jähriger.
Ihr Buch ist im Januar 2015 in der 5. Auflage erschienen. Gibt es seit der Erstauflage im Jahre 1993 Trends bzw. Veränderungen?
DE: Ja. Gott sei Dank ist die Sucht zurückgegangen, im Wirtschaftsteil mit schiefen oder abgenutzten Metaphern zu hantieren. In der ersten Auflage konnten wir noch ein ganzes Kapitel gestalten mit Beispielen wie „Lufthansa und Japan Airlines fliegen Arm in Arm“...
WS: ... „Pirellis Gewinnprofil ist abgefahren“...
DE: ... und „Heineken zapft ein schönes Ertragsplus“
DE: Und darunter standen dann Texte mit der Angabe holländischer Gulden und Prozentzeichen — also die drögesten Texte überhaupt. Und darüber standen dann Überschriften, die verkrampft locker–flockig sein sollten. Diese Marotte ist weitgehend abgeschafft.
Was wäre die Alternative für Tageszeitungen?
WS: Die Passage möchte ich Ihnen vorlesen Hier geht´s zur Lesung
Herr Esslinger, in der 5. Auflage widmen Sie dem Presserat ein ganzes Kapitel. Warum?
DE: Es hat sich gezeigt, dass die Leute im Laufe der Jahre immer empfindlicher geworden sind, was tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen den Pressekodex betrifft. Sie greifen nun nicht nur Lauftexte an, sondern auch Überschriften. Das Geschäft von Zeitungen besteht aber nun mal zum guten Teil aus Zuspitzungen. Und da sie im Lauftext Sachverhalte zuspitzen, tun sie dies erst recht in Überschriften. Also muss sich auch der Presserat heute mit viel mehr Beschwerden über Überschriften befassen als früher.
Warum ist ein Kapitel über die Zukunft der Überschrift nötig geworden, Herr Schneider?
WS: Es wäre wirklich nicht verfrüht, wenn die großen Zeitungen zur Kenntnis nähmen, dass, wenn um 11 Uhr eine Bundeskanzlerin gewählt wird, man am nächsten Tag eine andere Überschrift machen muss als „Bundeskanzlerin gewählt“. Das wissen 98% der Bürger schon aus dem Fernsehen. Die Sportjournalisten haben, als das Fernsehen erfunden wurde, gelernt, dass sie ihre Berichterstattung vollkommen verändern müssen. In keinem Sportteil steht „Bayern siegt 3:0“, denn das wissen die Leute bereits.
DE: Die siegen ja auch nicht mehr 3:0.
— Gelächter —
Die taz titelte zu der Wahl von Merkel: „Es ist ein Mädchen“. Wie gefällt Ihnen das?
WS: Gut. Das hätte sich beispielsweise eine Süddeutsche im Gegensatz zur Bild nicht leisten können. Dass die taz es sich geleistet hat, finde ich gut. Das erwarten die Leser auch. Die taz darf etwas salopper sein, das ist ihr Stil, gar kein Einwand.
DE: Ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren gab es in vielen Zeitungen den Aufmacher „Schröder saniert Holzmann“. Abends zuvor war der damalige Kanzler auf dem Balkon gestanden, nach einem Jahr Kanzlerschaft war es der erste halbwegs gelungene Auftritt. Die taz schrieb: „Holzmann saniert Schröder“.
WS: Das war ein klassischer Einfall, den sich auch die SZ hätte leisten können, dürfen und sollen.
Herr Esslinger, Sie als Redakteur der SZ, hätten Sie sich das getraut?
DE: Das ist eine kommentierende Überschrift. So etwas wäre in der SZ über einer Nachricht nicht möglich gewesen. Aber es wäre eine passende Überschrift für den Leitartikel jeder Tageszeitung gewesen.
WS: ... und den Leitartikel hätte ich dann auf die Seite 1 gestellt, ob er sonst dort steht oder nicht.
Sie schreiben im Buch, dass man den typischen Aufmacher beerdigen soll.
WS: Den langweiligen Aufmacher sollte man beerdigen. Also den, der nur die Tagesschau wiederholt, oder den, bei dem überhaupt nichts los ist: „Putin knüpft Beziehungen mit Kirgistan an“, oder ähnlich. Das ist die nackte Verlegenheit. Ich habe ermittelt, dass, nach der Meinung der Nachrichtenredakteure, an 60 Tagen im Jahr auf der Welt eigentlich nichts los ist. Hurra, wenn mal eine Mauer oder ein World Trade Center einstürzt! Da sind die Journalisten zufrieden. Dann gibt es echte Skandale, Katastrophen, Sensationen. Wenn über Wochen nichts los ist, erzeugen Journalisten gerne eine Katastrophe, obwohl nichts passiert ist. Auch dagegen richtet sich das Buch.
Was tun, wenn die Sensation ausbleibt?
WS: Was machen denn Spiegel und Stern seit 60 Jahren? Die kommen eine Woche zu spät, haben aber immer eine Titelgeschichte. Entweder man verkauft den alten Sachverhalt ein bisschen besser, oder man liegt eben auf der Lauer, um eine schöne Reportage oder eine Analyse aufzumachen in Richtung einer Titelgeschichte des Spiegels oder Sterns.
Ist das eine Gratwanderung, beim Überschriften–Texten besonders kreativ sein zu müssen? Was dabei so alles heraus kommen kann, darüber findet sich einiges im Buch.
WS: Das klingt ja, als ob Kreativität etwas Bedrohliches wäre. Natürlich sollen Sie verdammt noch mal kreativ sein und nicht schreiben: „Angela Merkel ist Bundeskanzlerin“. Die Aufmachertechnik der meisten großen Tageszeitungen ist in der Hinsicht in Routine erstarrt.
DE: Die großen Abonnement–Zeitungen haben sich die letzten zehn bis 15 Jahre weiterentwickelt. Sie bringen viel mehr Reportage und Analyse und beschränken sich nicht mehr auf bloße Chronistenpflicht.
WS: Und wie kriegt man am günstigsten Abonnenten, ohne für Hunderttausende Euro werben zu müssen? Dadurch, dass man möglichst viele Käufer verführt, das Ding am Kiosk zu kaufen.
Inwieweit ist die Arbeit des Überschriften–Texters vergleichbar mit der eines Werbetexters, der sein Produkt verkaufen will?
WS: Man kann durchaus Parallelen ziehen.
DE: Auch der Werbetexter steht vor der Aufgabe, ein technisch ungeheuer anspruchsvolles Produkt, auf das die Menschheit nicht unbedingt gewartet hat, in zehn oder zwanzig Anschläge zu fassen, so dass die Leute sagen: „Ja, will ich haben“. In der Zeitung ist es so, dass die wenigsten Artikel Geschichten sind, bei denen der Leser sagt: „Wenn ich das nicht lese, ist der Tag nicht vollkommen.“ Bei den meisten Themen fragt man sich doch, ob man dafür nun zwei Minuten seines Lebens hergeben soll oder nicht.
WS: Jeder Schreiber, der gelesen werden will, ist ein Werber. Wenn er ein guter Schreiber ist und wenn er den Ehrgeiz hat, gelesen zu werden, wirbt er ununterbrochen darum. Er zieht den angepeilten Leser erst mit einer guten Überschrift in den Text hinein, animiert ihn dann mit einem schönen ersten Absatz, den zweiten Absatz zu lesen und so weiter. Ein nicht werbender Schreiber macht dann die untere Hälfte der FAZ. Die Kreativität würde gefördert, wenn die Gesinnung herrschte wie beispielsweise bei der Bild–Zeitung: „An der Überschrift müssen wir wahrlich basteln.“ Da kommen dann großartige Sachen heraus wie: „Klinsi killt King Kahn“. Das ist handwerklich gesehen Weltklasse.
DE: ... und der einzige Fall, in dem ein vierfacher Stabreim geglückt ist...
— Gelächter —
Was halten Sie von der Überschrift „Geist ist geil“?
WS: Das ist nun eine dieser berühmten Abwandlungen. Da kann man sich darüber streiten, ob das witzig oder gequält ist. Ich finde es eher gequält.
DE: Im Moment geht es noch, weil „Geiz ist geil“ noch nicht hundertmal nachgeahmt wurde. Aber das wird passieren, und es wird sich der Eindruck einstellen: „Oje, jetzt kommt schon wieder einer damit“.
WS: Genau. Der Romantitel „Der Spion, der aus der Kälte kam“ hat ja ungefähr schon 7000 geistreiche Titel nach sich gezogen. Es hängt einem zum Hals raus.
Wie steht es mit dem Slogan „Wir sind Papst“?
WS: In Richtung der Bild–Zeitung eine ziemlich gute Schlagzeile.
DE: Es gab ja auch schon „Wir sind Oscar“. Dieses Ranschmeißen an einen Film, zu dem man nichts beigetragen hat, ist mir besonders aufgestoßen, weil es die Überschrift einer Pressemitteilung des deutschen Regisseur–Verbandes war. Ihm war der Preisträger Florian Henckel von Donnersmarck nie beigetreten, weil er von diesem Verband nun überhaupt nichts hält. Und dann machen die einen Tag nach der Verleihung: „Wir sind Oscar“.
— Herzliches Lachen —
Früher hat man in der Süddeutschen Zeitung beiden Ansichten Raum in der Überschrift gegeben: dem Regierungschef und dem Oppositionsführer. Nach der Layout–Umstellung gibt es dafür keinen Platz. Besteht da nicht eine Gefahr der Parteilichkeit?
DE: Jeder Text, jede Überschrift ist parteiisch. Ausgewogenheit ist eher herstellbar über eine längere Zeitspanne. Wer versucht, in jeder Zeitung, in jedem Artikel, in jeder Überschrift Ausgewogenheit herzustellen, der produziert nur Langweiler.
WS: Immer wenn es eine große Bundestagsdebatte gab, waren diese zwei Oberzeilen in der SZ schon eine sehr schöne Lösung. Für diese Fälle, fünf mal im Jahr. Das muss man aber nicht durch dieses ganze Jahr schleppen.
DE: Mit Bundestagsdebatten macht heute keine Zeitung mehr auf.
Herr Schneider, wie lautet die Überschrift Ihres beruflichen Lebens?
WS: Also, dafür brauche ich mehr als zwei Zeilen (lacht).
Ich habe meine Schüler genervt mit dem Spruch „Qualität kommt von Qual“. Das hat dann ein Lehrgang zur Abschiedsvorstellung auf das 14 Meter lange Banner eines Flugzeugs geschrieben, das über die Außenalster flog (lacht). Das ist nicht die Überschrift meines Lebens, aber die meiner Arbeit. Noch heute. Ja, ich plage mich, ich halte mich im Geschäft, weil ich die klassische journalistische Grundeinstellung erworben habe: Nun steht es da, also ist es scheiße — und nun beginnt die Arbeit.
— Gelächter —
Und Ihre Überschrift, Herr Esslinger?
DE: Wir sind ja alle, indem wir Herrn Schneiders West–Point–Akademie (Henri–Nannen–Journalistenschule, Hamburg, Anm. d. Red.) besucht haben, in gewisser Weise auch von ihm geprägt worden. Wenn ich heute meine eigenen Seminare veranstalte, komme ich oft mit zwei Schneider–Sprüchen. Den einen hat er gerade geliefert, der andere ist zu lang für eine Überschrift. Aber er wirkt immer.
WS: Aha?
DE: Ich klaue immer Ihren Spruch: „Einer muss sich Mühe geben — der Leser oder der Redakteur. Der Leser will aber nicht.“ br>
Denis Petroy, Zehra Spindler
Das Interview fand statt im März 2007 in Wolf Schneiders Wohnung in Starnberg. Für die Neuauflage 2015 wurde es aktualisiert.