Die Überschrift |
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Die Überschrift ist der schwierigste Teil des journalistischen Handwerks. Nirgends sonst drängen sich so viele Probleme in so wenigen Wörtern zusammen: Was eigentlich ist die Kernaussage des Artikels?
Manche Texte entlarven sich unter dem Anprall dieser Frage – sie haben keine. Wie lässt sich die Aussage in 30 oder 40 Anschläge fassen, sprachlich sauber, oft einer erschwerenden Redaktionssitte unterworfen („Die Zeilen müssen volllaufen“ gegen „Keinesfalls dürfen alle Zeilen volllaufen“), dennoch dem Inhalt angemessen und bei alldem auch noch interessant?
Wenn so wenige Wörter so viele Sorgen machen, liegt es nahe, eben diesen Wörtern ein ganzes Buch zu widmen. Hinter der Generalfrage marschiert ja ein Heer von Einzelproblemen – zum Beispiel: Wieviel Kommentar darf uns aus einer Nachrichtenüberschrift allenfalls entgegenspringen, und wo findet fahrlässige Kommentierung durch allzu arglose Wortwahl statt?
Wie leben wir mit den kommentierenden Überschriften der taz, die meist flapsig und oft witzig sind? (Es ist ein Mädchen – Über den Tag, an dem sich die CDU/CSU und SPD auf Angela Merkel als Kanzlerin der großen Koalition einigten &ndash das war so eine Überschrift, wie sie sich nur die taz traut.)
Brauchen Fernsehnachrichten eigentlich Überschriften, angesprochene oder eingeblendete, mit noch mehr Nachteilen als in der Zeitung, weil sie sich zumeist auf ein Wort beschränken? Und soll die Schlagzeile der Morgenzeitung die Tagesschau vom Vorabend als bekannt voraussetzen und entsprechend reagieren?
Da die notwendige Verkürzung oft eine Übertreibung ist &ndash wie viel Übertreibung darf man in Kauf nehmen, wenn man seriös bleiben will?
Wie soll sich die Hauptzeile zur Unterzeile verhalten und beide zum Text? Wie spät im Text darf die Aussage der Überschrift auftauchen? Es ist ein Ärgernis, wenn der Titel einer Reportage mir eine interessante Information verspricht, die ich erst im letzten Absatz finde?
Wo sind Wortspiele erlaubt oder gar erstrebenswert, wo nicht? Was ist vom Imperfekt in der Überschrift zu halten und was vom Fragezeichen?
Gibt es Buh&ndashWörter, die man in der Überschrift in jedem Fall vermeiden sollte, falls man dem Text ein paar Leser wünscht? Es gibt sie: Man denke nur an die „Gebietskörperschaften“ oder den „kommunalen Finanzausgleich“.
Probleme und Sachzwänge, Fallstricke und Versuchungen im Dutzend also, gerade wenn es nur um ein halbes Dutzend Wörter geht: die Wörter, die die Zeitung prägen.
Unter unseren Beispielen stehen die großen deutschen Blätter im Vordergrund, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Bild und Spiegel &ndash weil sie die selbstverständliche Lektüre des interessierten Journalisten sind, also von uns am längsten und am gründlichsten beobachtet wurden. Aber wir haben uns auch um einen Streifzug durch die gesamte Medienlandschaft bemüht, haben Beispiele im Delmenhorster Kreisblatt gefunden und im Polizeikurier des Landes Sachsen–Anhalt.
Dass die Großen auch bei den schlechten Beispielen dominieren, heißt also nicht, dass sie unserer Meinung nach mehr Entgleisungen produzieren als andere Blätter; im Gegenteil: über die Jahre lässt sich vielmehr beobachten, dass die Qualität der Überschriften in den großen Tageszeitungen alles in allem zugenommen hat, während viele Regionalblätter weiterhin Routine und Einfallslosigkeit bieten – was möglicherweise nicht nur an den Redakteuren, sondern auch an den Arbeitsbedingungen dort liegt.
Zwar sind bei allen Blättern im Zuge der Branchenkrise zu Beginn des Jahrtausends massiv Stellen abgebaut worden – Zustände wie jene, dass zum Beispiel vier Redakteure täglich dreißig Seiten produzieren müssen, gibt es jedoch nur in der Provinz.
Dieses Buch ist im Jahre 1993 das erste Mal erschienen; seitdem hat sich vieles verändert in den deutschen Medien. Was Überschriften betrifft, hat sich manches zum Besseren gewendet: Die Wirtschaftsteile, zumindest der großen Zeitungen, machen sich nicht mehr wie damals mit verquerer Bildsprache lächerlich: Lufthansa und Japan Air Lines fliegen Arm in Arm oder Pirellis Gewinnprofil ist abgefahren – solchen Krampf findet man heute kaum mehr. Marotten, die manche Blätter geradezu wie Markenzeichen pflegen, gibt es nicht mehr in dem Maße wie früher: Nur im Ausnahmefall beispielsweise setzt das Feuilleton der FAZ noch einen Namen in der Hauptzeile über eine Meldung – einen Namen, und sonst nichts. Früher war das die Regel.
Viele der im Buch zitierten und analysierten Überschriften–Beispiele sind inzwischen (je nachdem berühmte oder berüchtigte) Klassiker; viele neue (beider Qualitäten) haben wir dieser vollständig aktualisierten und erweiterten Auflage hinzugefügt; „Wir sind Papst!“, nimmt unter ihnen einen Spitzenplatz ein.
Erstmals berichten wir in einem Kapitel, wo der Deutsche Presserat Freiheiten und Grenzen der Überschrift sieht.
Wo immer sich mit Anstand Rezepte für zugleich korrekte und attraktive Überschriften geben lassen, haben wir uns darum bemüht. Wo nicht, hoffen wir, wenigstens zu den kleinen Verbesserungen beizutragen, die sich in Grenzfällen immer wieder erreichen lassen, sobald man sich die Probleme ins Bewusstsein gerufen hat. Auf fahrlässige Entgleisungen wollen wir den Finger legen, über mutwillige den Kopf schütteln und auf Spitzenprodukte Bewunderung lenken.
Wolf Schneider/Detlef Esslinger
Starnberg/München, im Februar 2007